Die Achtsamkeitspraxis hat ihren Ursprung, und das ist wohl nichts Neues, in den alten Traditionen des Ostens. Genauer gesagt in der 2500 Jahre alten „Satipatthana-Sutta“ der buddhistischen Lehren. Die ältesten überlieferten Hinweise auf eine Achtsamkeitspraxis gibt es im sogenannten Pali-Kanon des Theravada-Buddhismus. Im buddhistischen Kontext wird Achtsamkeit als absichtsloses Wahrnehmen des Hier und Jetzt betont. Hier wird eine „spirituelle Dimension“ betreten, die das Vermögen des Menschen erweckt, die letztendliche Wahrheit des Seins zu erkennen. Die Menschen haben dieses Vermögen und eine gewisse „Sehnsucht“ nach Erkenntnis und Spiritualität tief in ihrem Innern verborgen. Ansonsten gäbe es weder Philosophie, Kunst noch Religion. Und es scheint so, als wäre diese Sehnsucht heute mehr denn je dabei, sich ausdrücken zu wollen. Die Mystiker der „Rosenkreuzer“ sprechen von der „Rose im Innern des Menschen“, deren Knospe danach strebt zu erblühen.

Aber nicht nur der Buddhismus vermittelt die Notwendigkeit, sich um seine geistige und psychische Verfassung mit Achtsamkeit und Meditation zu kümmern. Bereits in vorchristlicher Zeit war es in Griechenland allgemeines Gedankengut, Geist und Psyche, genauso wie den Körper zu hegen und zu pflegen. Es sind präzise Anleitungen überliefert, die zeigen, wie tägliche Aufmerksamkeit  auf Geist und Psyche zu richten und eine sorgfältige Psychohygiene zu betreiben sei. Zu dieser Zeit existierte die philosophische Schule der Stoa (Stoiker), welche die Tugend der Langsamkeit pflegte und den „inneren Zustand der Meeresstille“ anstrebte, einen der Achtsamkeit verwandten, gleichförmigen Seins-Zustand.

Spricht man über westliche „Achtsamkeit im 21. Jahrhundert“, kommt man an dem amerikanischen Arzt Jon Kabat-Zinn nicht vorbei. Der Professor, geboren 1944, ist Gründer der „Center of Mindfulness and Stress Reduction Clinic“ an der „University of Massachusetts Medical School“ im Jahre 1979. Das von ihm entwickelte Achtsamkeitstraining „Mindfulness Based Stress Reduction“ (MBSR) ist mittlerweile über alle Grenzen der USA bekannt und wird weltweit angeboten. Kabat-Zinn verfolgte das Ziel, dieses Programm für Menschen mit stressinduzierten chronischen Krankheiten, zusätzlich zur Behandlung.

Jon Kabat-Zinn: „Das Wissen um Achtsamkeit und ihre Kultivierung im Achtsamkeitstraining sollte in der westlichen Welt zum Mainstream werden, jedoch ohne jede Weltanschauung und ohne ideologischem Überbau.“

Jon Kabat-Zinn ist auch „Erfinder“ einer mittlerweile recht bekannten und eindrucksvollen „Essmeditation“. Sie ist so beeindruckend, weil sie so einfach und wirkungsvoll ist. Es handelt sich um die Rosinenübung!

Im Prinzip ist es ganz einfach: Bei der Rosinenübung wird eine Rosine gegessen. So weit, so gut. Allerdings wird sie nicht wie meist im alltäglichen Leben gegessen: als Teil einer ganzen Handvoll Rosinen, die vielleicht vier bis fünf Mal gekaut und dann achtlos hinunter geschluckt wird, während die nächste Handvoll Rosinen schon wieder in der Hand bereit liegt und nebenbei lauter andere Dinge die Aufmerksamkeit beanspruchen. Vielmehr wird bei der Rosinenübung eine einzelne Rosine, mit voller Aufmerksamkeit und allen Sinnen, gegessen.

Bei dieser Übung zum achtsamen Essen, wird eine Rosine erkundet, als ob Du sie noch nie in Deinem Leben gesehen, geschweige denn gegessen hättest. Du betrachtest sie als etwas vollkommen Neues.  Für die Erforschung der Rosine werden alle Sinne benutzt: sehen, fühlen, riechen, hören, schmecken.

Was das bewirkt?

  • Du übst Deine Aufmerksamkeit gezielt einzusetzen und Dich bewusst zu konzentrieren.
  • Du schaffst Raum für einen klaren Geist (was gerade in der heutigen Fülle an Eindrücken und Informationen immer seltener wird).
  • Du spürst Deinen Körper und setzt Deine Sinne bewusst ein (in den vielen kopflastigen Tätigkeiten heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr).
  • Du schenkst Deinem Essen wieder mehr Aufmerksamkeit und übst Dankbarkeit für das vermeintlich „Selbstverständliche“.
  • Du bist vollkommen präsent, vollkommen im Hier und Jetzt  (wo wir uns gedanklich doch so oft in Vergangenheit und Zukunft befinden)..

Deine heutige Lektion: die  „Rosinenübung“

Anleitung: 

Für diese Essmeditation benötigst Du eine einzelne Rosine. Anstelle der Rosinen kannst Du auch ein anderes kleines Lebensmittel, wie eine getrocknete Cranberry, eine Himbeere, eine Kirschtomate oder ein Cracker verwenden.

Stelle Dir vor, Du seist ein Wissenschaftler auf einem fremden Planeten auf der Suche nach etwas zu essen. Du entdeckst die Rosine (den vollkommen neuen Gegenstand) und erkundest sie neugierig mit den „Werkzeugen“, die Dir zur Verfügung stehen: Deinen 5 Sinnen.

Zunächst untersuchst Du den Gegenstand aufmerksam rein äußerlich. Beginne mit Deinen Augen. Was siehst Du? Wie sieht der Gegenstand aus? Welche Farbe(n) hat er? Welche Form und Oberfläche? Sieht er appetitlich aus? Dann nutzt Du Deine Nase. Wie riecht der Gegenstand? Riechst Du verschiedene Dinge? Ist der Geruch appetitlich? Nutze nun Deine Finger, um den Gegenstand zu fühlen. Wie fühlt er sich an? Gibt er nach, wenn Du ihn drückst? Dann halte den Gegenstand an Dein Ohr. Hörst Du etwas? Hörst Du vielleicht etwas, wenn Du den Gegenstand drückst?

Nun ist der Moment gekommen, den Gegenstand in den Mund zunehmen: Lege den Gegenstand auf Deine Zunge, schließe den Mund, kaue jedoch nicht. Wie fühlt sich der Gegenstand auf der Zunge an? Anders als bei der Erkundung mit den Fingern? Schmeckst Du schon etwas? Nehme einen bewussten ersten Biss. Was verändert sich am Geschmack? An der Konsistenz? Am Gefühl? Bewege den Gegenstand mit Deiner Zunge im Mund hin und her, um ihn in seiner Gänze zu schmecken. Kaue nach und nach weiter und bleibe dabei ganz bewusst und aufmerksam in Hinblick auf Geschmack und Konsistenz. Verändern sie sich? Dann, schlucke den Gegenstand bewusst herunter. Wie fühlt sich das an? Welcher Geschmack und welches Gefühl verbleiben im Mund? Wie lange?

Und zum Schluss: Wie sättigend war dieser Gegenstand?

Wichtig bei der Erkundung ist, dass Du ein sehr neutraler Wissenschaftler, ein neutraler Beobachter, bist. Du nimmst jegliche Empfindungen wahr, ohne sie zu bewerten.

Die Übung kann von 5 Minuten bis zu 20 oder 30 Minuten dauern, je nachdem, wie aufmerksam Du den Gegenstand untersuchen möchtest.

Anmerkung: diese Übung wird Dir zunächst etwas ungewohnt erscheinen und vielleicht sogar schwer fallen. Heutzutage sind wir oftmals sehr abgelenkt von den verschiedensten Eindrücken und Informationen – sowohl um uns herum, als auch in uns selbst in Form unserer Gedanken. Nimm´ Dir Zeit. Sich auf eine Sache zu konzentrieren ist nicht so einfach, und so zwischen „Tür und Angel“ wird das nichts.  Öfters aufmerksam, bewusst, achtsam zu sein, ist allerdings umso wichtiger. Achtsamkeit ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann. Je öfter Du ihn einsetzt, umso leichter wird es Dir fallen.

Quellenangaben:
Bays, Jan Chozen, “Achtsam Essen”, 2. Auflage 2011, Arbor Verlag GmbH, Freiamt